Anmerkung des Autors: Diese Geschichte war eine der Ausgangsbasen für mein Romanmanuskript „Grünberg“.

 
Ich war auf dem Weg nach Dunbar und da ich ein bisschen in Zeitnot war, beschloss ich durch das Moor zu gehen. Als Kind hatte ich hier mit Freunden schon öfters gespielt, obwohl meine Eltern immer etwas dagegen gehabt hatten. Angeblich sei es hier zu gefährlich. Aber zum Glück erfuhren sie nie, dass ich mich hier herumgetrieben hatte. Ich muss zugeben, dass meine Eltern Recht hatten. Vor einigen Jahre war im Moor ein Junge verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Aber nicht nur die meisten Kinder machten einen Bogen darum, auch viele Erwachsene fürchteten sich vor dem Sumpfgebiet. Einige alte Leute erzählten sogar, dass hier ein Monster leben soll, aber ich hielt das für Aberglauben und dummes Geschwätz.

Je näher ich dem Moor kam, desto nebliger wurde es. Anfangs konnte ich vielleicht noch über fünfzig Meter sehen, doch schon nach kurzer Zeit vermochte ich nicht einmal mehr erkennen, was sich zehn Meter vor mir befand. Dies war eines der beiden Dinge, die mich etwas nervös machten. Die andere Sache war, dass je tiefer ich in das Moor vordrang, desto ruhiger wurde es. Wahrscheinlich ist lautloser hier das bessere Wort, denn von Meter zu Meter nahmen die Geräusche und Laute um mich herum immer mehr ab.

Langsam wurde es mir auch ein bisschen unheimlich. Als ich früher hier gespielt hatte, war nie so ein Nebel gewesen. Damals hatte ich mich aber auch nur nachmittags hier aufgehalten. Jetzt war es schon Abend. In weiter Ferne hörte ich die Kirchenglocken von Dunbar zehn mal schlagen.

Mit einem Male war es ganz still um mich herum. Das einzige, was ich noch hörte, war der raue Atem des Novemberwindes, der mir eisig ins Gesicht pfiff. Etliche Minuten lang vernahm ich nichts Anderes. Dann plötzlich drangen leise Geräusche in mein Ohr, die mich noch mehr verstörten. Denn irgendwie passten sie hier überhaupt nicht hin. Zuerst dachte ich, es wären irgendwelche Tiere, doch je länger ich lauschte, desto sicherer wurde ich mir, dass es ein leiser Gesang von Kindern war. Ich konnte zwar nicht verstehen, was sie sangen, aber das sie sangen, stand ohne Zweifel fest.

Mit jedem weiteren Schritt wurde es kälter um mich herum, gleichzeitig schien das eisige Pfeifen des Windes jedoch abzunehmen. Ich hatte allerdings keine Gelegenheit, mich sehr darüber zu wundern, denn außer dem leisen Gesang der Kinder hörte ich jetzt auch ein dumpfes Brummen, das immer lauter wurde.

Jetzt hatte mich die Angst vollständig gepackt. Ich blieb stehen und sah mich nach allen Seiten um. In meinen Umkreis konnte ich nichts und niemand erkennen. Selbst der Pfad, der mich hierher führte, verblasste immer mehr und war nur noch undeutlich zu erkennen. Das Brummen und der Gesang selbst schienen von überall her zu kommen. Eine genaue Richtung konnte ich nicht ausmachen.

Was sollte ich nun tun? Stehen zu bleiben würde mich in meiner misslichen Lage nicht weiterbringen. Dennoch missfiel mir schon allein die bloße Vorstellung zutiefst, auch nur einen einzigen Schritt weiter zu gehen. Immer mehr drängte sich mir der Gedanke auf, einen gewaltigen Fehler begangen zu haben.

Da mir aber im Grunde genommen keine Wahl blieb, schritt ich langsam weiter. Alle paar Meter sah ich mich um, denn ich bekam ein immer stärker werdendes Gefühl, dass ich verfolgt wurde. Sehen konnte ich durch den grauen Dunst allerdings niemanden.

Als sich nach einer Weile der Nebel langsam zu lichten begann, atmete ich auf. Kurzzeitig dachte ich sogar, nun das Schlimmste überstanden zu haben, aber dies war ein grausamer Irrtum. Eher das komplette Gegenteil traf zu.

Das Brummen wurde immer lauter und übertraf den Kindergesang vollkommen. Etwa fünfhundert Meter vor mir schimmerte ein helles Licht. Das müssen die ersten Häuser von Dunbar sein, schoss es mir durch den Kopf, aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Dunbar lag noch mindestens zwei Meilen vor mir.

Als ich noch etwa zweihundert Meter von dem Licht entfernt war, wurde das Brummen nicht mehr lauter. Es hatte jetzt eine konstante Lautstärke erreicht. Ab und zu stockte es, aber ich hörte es wenige Sekunden danach sofort wieder. Mit der gleichen Lautstärke. So abwegig die Überlegung mir am Anfang auch vorkam, das unheimliche Licht und das lautstarke Brummen schienen irgendwie zusammen zu gehören.

Abermals hatte ich das Gefühl, einen großen Fehler zu begehen. Dennoch blieb ich nicht stehen, sondern setzte meinen Weg in Richtung der Helligkeit und des merkwürdigen Geräusches fort. Eine Fackel oder ein Lagerfeuer erkennen konnte ich nirgendwo entdecken, doch das Licht war da.

Nach ein paar Meter erblickte ich vor mir eine Lichtung und steuerte direkt auf sie zu. Ich schaffte es allerdings nicht, sie zu erreichen. Plötzlich bäumte sich einen riesiger Schatten neben auf. Im gleichen Moment verstummte auch der Kindergesang. Nervös schaute ich mich um und erstarrte. Mein Herz setzte für einige Momente mit dem Schlagen aus und ich war mir sicher, dass mein letztes Stündchen geschlagen hatte.

Vor mir stand eine mehr als fünf Meter große Gestalt, deren bloßer Anblick mich neue Dimensionen der Furcht erfahren ließ. Mit einem Mal wusste ich auch, dass das Brummen, dass ich immer noch hörte von ihr kam. Das Wesen zu beschreiben, ist fast unmöglich. Vor allem wenn man die Tatsache bedenkt, dass es mich bereits anvisierte und sich mit einer Wolke widerwärtigsten Gestanks direkt auf mich zu bewegte. Ich erkannte ein paar riesige Fangarme, wie die von monströsen Kraken. Da ich mich jedoch unzählige Meilen vom Meer entfernt befand, konnte es gar keine solcher Meeresbewohner sein. In diesem Punkt behielt ich recht. Es handelte sich nicht um eine Krake. Beine konnte ich keine erkennen, dafür erblickte ich beim Hinaufschauen einen schuppigen dunklen Oberkörper wie der eines prähistorischen Wesens. Der Kopf der Kreatur wiederum wies absolut keine Ähnlichkeit mit einem mir bekannten Tier auf. Dieses unförmige Haupt besaß etwas von einem Echsenkopf, aber am Hinterkopf befanden sich etwa zehn Zentimeter große Auswüchse nach beiden Seiten. Außerdem bewegten sich schlangenartige Gebilde am Unterkopf hin und her.

Ich wusste, dass wenn ich nicht sofort von hier verschwand, ich hier sterben würde. Sofort setzte ich zur Flucht an, marschierte jedoch zunächst nur langsam und äußerst vorsichtig zurück. Ich wollte mich gerade umdrehen und davonlaufen, als das Wesen etwas nach mir spuckte. Gerade noch rechtzeitig sprang ich zur Seite und sah, wie sich der stinkende Auswurf in den Erdboden fraß. Dampfwolken stiegen dabei auf. Dann peitschte die Kreatur mit ihren langen Armen nach mir. Ich sprang wieder zu Seite, diesmal aber nicht schnell genug. Einer der Arme erwischte mich kurz an der rechten Schulter. Sofort stieg ein brennender Schmerz in mir auf und ich sah für einige Augenblicke lang grelle Lichtexplosionen vor meinen Augen.

Trotz des riesigen Schmerzes rollte ich mich zu Seite und suchte nach einer passenden Deckung gegen eventuell weitere folgende Attacken dieser Art. Als ich wieder aufsah, stellte ich voller Schrecken fest, dass sich das unheimliche Wesen direkt auf meine neue Position zu bewegte. Aber noch etwas fiel mir auf: ich bemerkte, wie etwas an meiner Brust immer wärmer wurde, und musste sofort an Mr. Kings Talisman denken, den er mir vor wenigen Wochen schenkte. Seitdem trug ich ihn an einem Lederband um meinen Hals. Ich griff unter mein Hemd und riss mir den Talisman voller Panik vom Leib. Als ich ihn vor mir sah, bemerkte ich zu meinem Erstaunen und Entsetzen, dass er rötlich zu glühen begonnen hatte und immer heißer wurde.

Der Talisman selbst war eine runde große Scheibe von etwa zehn Zentimeter Durchmesser. In einem äußeren Ring standen ein paar mir unbekannte Schriftzeichen. Mr. King nannte es Runenschrift. Unter dem Runenschrift-Ring war ein x-förmiges Gebilde, in dessen Mitte sich eine kleine Tafel befand, auf der ebenfalls diese Schriftzeichen standen.

Während ich den Talisman fassungslos anstarrte, sah ich plötzlich Mr. King vor mir, der mir zurief, ich solle den Talisman in die Richtung des Monsters werfen. Dann verschwand mein Mentor genauso plötzlich, wie er erschienen war. Ich tat wie mir geheißen und warf den Talisman in die Richtung des sich nähernden Wesens. Da ich nie ein guter Werfer war, warf ich den Talisman zu hoch. Ich befürchtete schon, wie er kurz vor der Kreatur auf den Boden fallen würde, doch plötzlich änderte der Talisman selbst seine Richtung und flog genau auf das Wesen zu. Aus dem anfänglich rötlichen Glühen, war mittlerweile ein weiß-gelbes aggressives Leuchten geworden.

Als der Talisman in die Nähe der Kreatur kam, hielt ich den Atem an. Ich sah, wie er den Oberkörper des grässlichen Wesens berührte und sich tief hineinbrannte. Gleichzeitig hörte ich das fassungslose Kreischen des Monsters. Mittlerweile versuchte es nicht mehr, mich anzugreifen, sondern fuchtelte hilflos mit den Tentakelarmen in der Luft herum. Es wandte sich vor Schmerz vollkommen unkontrolliert hin und her, konnte jedoch nichts gegen die gewaltige Macht meines Talismans unternehmen.

An dem Punkt, wo der Talisman das Monster berührte, bildete sich ein heller Kreis, der immer größer wurde. Je mehr er zunahm, desto lauter wurde das Kreischen der Kreatur.

Danach geschah das Seltsamste, das ich bisher erlebt hatte. Denn urplötzlich verschwand das prähistorische Wesen. Das grelle Leuchten wurde so groß, dass es den gesamten riesigen Körper überdeckte. Ein letztes Mal vernahm ich die verzweifelten Schreie des Monsters. Dann war es verschwunden. Mit ihm verschwand auch das grelle Leuchten. Nur mein Talisman blieb zurück und fiel auf den Boden hinab.

Auch wenn ich noch immer völlig perplex war, rannte ich auf ihn zu und hob ihn auf. Er war jetzt weder heiß, noch glühte er. Stattdessen sah er jetzt wieder genauso aus, wie der Talisman, den mir Mr. King vor Wochen gegeben hatte.

Ich weiß noch, wie ich mir das mächtige Schmuckstück wieder um meinen Hals hängte und mich unsicher nach allen Seiten umschaute. Das, was gerade eben hier geschehen war, konnte ich noch immer nicht fassen. Plötzlich drehte sich alles um mich. Und es wurde dunkler. Viel dunkler. Das Ganze war wohl einfach zu viel für mich.

Ich erwachte in einem warmen Bett, mit rot-weiß kariertem Bettüberzug. Ein Mann, den ich vom Sehen her kannte trat an mein Bett heran und schaute mich sorgenvoll an.

„Du kannst froh sein, dass wir dich gefunden haben. Du kamst hier in Richtung Dunbar gestolpert und bist auf halben Wege zusammengebrochen. Meine Frau sah dich sofort am Wegesrand liegen und rief mich. Das ist doch der junge Mann, der immer bei Mr. King ist, sagte sie mir. Ich eilte heraus und fand dich. Du warst ohnmächtig.”

Er sah mich zweifelnd an, sagte dann aber nichts mehr und verließ das Zimmer. Ich stand auf und zog mich an. Hatte ich das alles nur geträumt? Ich wusste es nicht, aber viele der Erinnerungen waren noch frisch und so klar. Zwar hatte ich zuvor noch nie ein solches Wesen, wie das im Moor, gesehen, aber ganz wollte ich seine Existenz dennoch nicht ausschließen. Obendrein musste es ja einen triftigen Grund dafür geben, dass ich mich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte und kurz vor Dunbar zusammenbrach.

Als ich mir mein Hemd anziehen wollte, blickte ich auf den Talisman, den ich nach wie vor um meinen Hals trug. Jetzt kam er mir sehr viel wichtiger vor, als ich es bisher für möglich gehalten hatte. Bestimmt barg er noch einige ungeahnte Geheimnisse in sich.

Zwei Stunden später verließ ich das Haus des Mannes wieder und machte mich auf den Rückweg zu Mr. King. Ich wollte unbedingt wissen, was es mit dem Talisman auf sich hatte. Also beeilte ich mich. Doch durch das Moor würde ich dennoch nicht gehen. Auch wenn ich in Eile bin und es vormittags ist. Dafür habe ich jetzt zu viel Respekt vor dem Moor.