In der Nacht war er von einem chaotischen Traum in den nächsten geglitten und war heilfroh gewesen, endlich aufzuwachen. Allerdings hatte dieses Gefühl der Freude nicht lange angehalten. Schon früh am Morgen hatte er geahnt, was auf ihn zukommen würde. In dem Moment, wo er sich seine Anzughose mit Marmelade bekleckerte, war es ganz deutlich zu spüren gewesen. Hastig hatte er in seinem Schrank nach einer neuen gesucht und dabei jedoch nur eine schlichte und ausgebleichte entdeckt, die er aus gutem Grund bereits seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Missmutig zog er sie an und trat vor den Spiegel. Einige Sekunden lang musterte er sich und hätte am liebsten lautstark geflucht. Die kleine Wunde, die er sich heute beim Rasieren zugezogen hatte, war mehr als deutlich zu erkennen. Bestimmt würden die Kollegen wieder ihre dummen Witze darüber reißen. So, wie sie es immer taten. Ein Tag ohne ihre völlig unkomischen Sprüche wäre wie eine Wunde, in die man kein Salz streuen konnte.

Danach hatte er aus dem Fenster gesehen, und bemerkt, wie es in Strömen regnete. Diesmal fluchte er doch leise vor sich hin und trat zurück in den Flur. Verzweifelt suchte er nach seiner Regenjacke, bis ihm einfiel, dass er sie gestern bei Annette liegen gelassen hatte. Egal, ändern konnte er es jetzt sowieso nicht mehr. Die wenigen Meter bis zum Auto würde er auch so überstehen. Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und verspürte erneut das Bedürfnis, zu fluchen. Wenn er noch weiter hier herumtrödelte, würde er zu spät zur Arbeit kommen. Sein Chef, der das Gemüt eines wutentbrannten Mastbullen besaß, war sowieso nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen und jeder noch so kleine Fehler konnte sein letzter sein. So schnell er konnte, riss er die Tür seiner Wohnung auf und stürmte die Treppen hinab. Er hatte noch fast zwanzig Minuten Zeit. Noch konnte er es schaffen.

Die wenigen Meter bis zum Auto hatten letztendlich doch gereicht, um ihn nass bis auf die Knochen zu machen. Doch er sparte sich die Kraft, sich auch noch darüber aufzuregen und versuchte stattdessen, sein Auto zu starten. Aber wie sollte es anders sein, sprang es nicht an. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es an der Batterie lag. Annette hatte ihm gesagt, dass er sie überprüfen lassen sollte. Aber er hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und gesagt, dass er das auch allein hinbekommen würde. Nun sah er, was ihm sein Starrsinn gebracht hatte. Diesmal konnte er sich nicht mehr beherrschen und begann lautstark zu brüllen. Immer und immer wieder schlug er mit seinen Fäusten gegen das Lenkrad und versuchte so, die angestaute Wut loszuwerden. Passanten gingen kopfschüttelnd an ihm vorüber. Einige von ihnen sahen auch zu, dass sie sich so schnell wie möglich entfernen konnten.

Er atmete einmal tief durch und verließ das Auto. Die U-Bahn war doch gleich um die Ecke. Mit etwas Glück würde immer noch pünktlich im Büro sein. Hastig schloss er sein Auto hinter sich ab und sprintete den Weg bis zur U-Bahnstation. Er kämpfte sich durch ein Meer von Menschen und war selbst darüber erstaunt, gleich die erste U-Bahn zu bekommen. Zusammen mit einer Horde Jugendlicher in Ganguniform. Was für ein verrückter Morgen. Neben ihm stand ein grimmig dreinblickender Glatzkopf, der sich an seiner Freude wohl nicht besonders weiden konnte. Also drehte er sich in die andere Richtung und versuchte sich abzulenken.

Hatte er eigentlich die Wohnungstür verschlossen? Nervös trieb er seine Gedanken den Weg nach Hause zurück. Er hatte nach der Jeansjacke gegriffen und auf seine Uhr gesehen. Dann war er erschrocken und war hinausgestürmt. Aber war die Tür auch wieder zugegangen? Verdammt, er hatte nicht einmal auf das Klicken abgewartet. Die Gegend in der er lebte, war auch nicht gerade als die sicherste bekannt. Aber ein umsichtiger Nachbar würde bestimmt soviel Verständnis haben und sie schließen. Zumindest hoffte er das. Mit Müller hatte er sich letzte Woche wegen der Treppenreinigung in die Haaren bekommen. Auch mit Schulze war nicht so gut Kirschenessen. Er konnte nur hoffen, dass einer der beiden ihre Streitigkeiten vergessen hatte und die offene Tür bemerkte. Ansonsten blieb ihm nur noch die Möglichkeit zu beten.

Kaum hatte er die U-Bahn verlassen, war ein Transporter mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeigebraust. Vor ihm befand sich eine Pfütze und wie selbstverständlich war der Lastwagen hindurch gefahren. Passenderweise trug er gerade seine helle Hose.

Dass er zu spät im Büro erschien, stellte für ihn keine sonderlich große Überraschung mehr da. Sein Chef, der heute besonders mies drauf war, strafte ihn mit zornigen Blicken und sagte, dass er ihn nach dem Mittagessen in seinem Büro sprechen wollte. Schulterzuckend nahm er es zur Kenntnis und hatte zum verabredeten Zeitpunkt auf einem unbequemen und viel zu niedrigen Stuhl auf der Vorderseite des Schreibtisches platzgenommen. Sein Chef thronte auf der gegenüberliegenden Seite in einem gewaltigen Ledersessel. Jetzt, einige Stunden später, hatte er vieles schon wieder vergessen, was sein Boss zu ihm sagte. Aber einige Wortfetzen wie „Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen.“ Oder „Im Zuge der Umstrukturierung“ waren ihm noch sehr gut im Ohr.

Gott, was war dies für ein grausamer Tag? Nun hatte er auch noch seinen Job verloren. Was hatte er denn getan, um so gestraft zu werden? Er war kein Katzenquäler oder Kinderschänder, er mochte keine Volksmusik und auch sonst unterlag er seines Wissens nach keiner einzigen Perversion. Dennoch schien sich das Schicksal gegen ihn verschworen zu haben. Nichts lief mehr so, wie es laufen sollte. Das geheuchelte Bedauern seiner Kollegen, die ihn sowieso nie gemocht hatten, hörte er schon gar nicht mehr. Schweigend packte er seinen restlichen Sachen und verließ das Büro.

Ziellos irrte er durch den Regen. Ab und zu nieste er und zweifelte nicht daran, dass er sich nun auch noch eine Erkältung eingefangen hatte. Bei seinem Glück würde es eine ausgewachsene Grippe werden. Als es dunkel wurde, stieg er in eine U-Bahn und fuhr nach Hause.

Natürlich hatte niemand die Wohnungstür verschlossen. Es wunderte ihn auch nicht weiter, als er die Räume sah, die heute Morgen noch seine Wohnung gewesen waren, und sie in einem kaum beschreibbaren Zustand vorfand. Sämtliche Möbel waren umgestoßen und mit neonfarbenen Zeichen besprüht worden. Sein Marilyn Monroe – Poster lag auf dem Boden und zeigte krakelige obszöne Gesten. Selbst das Bett im Schlafzimmer hatten die Vandalen zerstört. Das einzige, das in diesem gigantischen Meer von Trümmern und zerstörten Besitztümern heil geblieben zu sein schien, war das alte Sofa. Es stand noch immer an seinem ursprünglichen Platz vor dem Fenster und schien Ruhe und einen Hauch von Vertrautheit auszustrahlen.

Zuerst marschierte er in die Küche, und entnahm dem, was früher einmal sein Kühlschrank gewesen war, eine noch unversehrte Dose Bier. Anschließend ließ er sich auf dem Sofa nieder.

Er öffnete seine Bierdose, wischte sich den, ihm entgegenspritzenden Schaum vom Gesicht, und nahm einen kräftigen Schluck. Dann schloss er für einen Moment seine Augen und bemerkte die herrliche Stille. Wenigstens das war ihm noch geblieben.

Gerade in diesem Moment klingelte das Telefon. Er erschrak nicht, und war auch nicht weiter überrascht. Er wunderte sich lediglich, dass es überhaupt heilgeblieben war. Bestimmt würde ihm gleich irgendjemand irgendetwas Schlimmes erzählen, vermutete er.

Vielleicht würde auch jemand „April, April“ rufen. Aber es war November. Daher schien auch das nicht besonders naheliegend. Angeekelt nahm er den Hörer ab und versuchte dabei nicht auf die klebrige Flüssigkeit zu blicken, die die Wähltasten hinablief. Annette war am Telefon, aber sie spendete ihm nicht den Trost, den er jetzt so dringend gebrauchen konnte. Stattdessen erzählte sie ihm davon, dass sie mehr Freiheit wollte und über ihr ganzes Leben nachdenken müsste. Sie meinte auch, dass es besser wäre, wenn sie sich für einige Zeit nicht sahen. Doch das hörte er kaum noch. Er war kein bisschen überrascht. Nicht nach diesem Tag.

Aus Angst vor weiteren Anrufen dieser Art wollte er den Stecker der Telefonschnur aus der Dose ziehen und hatte auf einmal nur noch ein loses Kabelende in der Hand. Kopfschüttelnd durchquerte er das Trümmerfeld und ging zurück zu seinem Sofa. Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Bier und schaute auf die Skyline der Stadt. Was würde heute noch passieren? Es war jetzt kurz nach neun, der Tag dauerte noch drei weitere grauenvolle Stunden an.

Es regnete noch immer. Aber das überraschte ihn überhaupt nicht. War doch eigentlich klar gewesen. Selbstverständlich nieselte es nicht nur, sondern goss in Strömen. Genauso, wie es sich für einen Tag wie diesen gehört. Erschöpft schloss er seine Augen und hoffte, dass dieser Tag endlich enden würde. Der Gedanke an Morgen erfreute ihn nicht sonderlich. Aber der lag zum Glück noch in weiter Ferne.