Das Schicksal schien es mit Ronald M. und seiner Frau Liane wirklich nicht besonders gut zu meinen. Bei der Geburt ihres Sohnes Harald wäre Liana um ein Haar gestorben. Nur durch das schnelle Eingreifen der Ärzte konnte ihr Leben gerettet werden. Später war Sohnemann Harald in der Schule alles andere als ein ruhiges Kind. Was nicht nur ihm, sondern auch den verzweifelten Eltern immer wieder Ärger einbrachte. Als Haralds Pubertät begann, wurden die Probleme noch schlimmer. Mit achtzehn wurde er langsam vernünftig. Zumindest hatten Ronald und Liane das gedacht.

Der Anruf in der vorletzten Nacht, irgendwann kurz nach halb vier, hatte ihnen ihren Irrtum auf sehr deutliche Weise vor Augen geführt. Seinen Führerschein besaß Harald gerade einmal zwei Monate. Dennoch spielte er sich seinen Eltern und seinen Freunden gegenüber immer so auf, als würde er schon jahrelang hinter dem Steuer sitzen.

Allerdings schien er dabei vergessen zu haben, dass man nach drei Jack Daniels und zwei Flaschen Bier nicht unbedingt der beste Autofahrer war. Auf einer Landstraße, etwas außerhalb der Stadt, kam es wie es kommen musste. Der angetrunkene Fahranfänger war mit seinem alten Corsa viel zu schnell unterwegs. Als ein Baum hinter einer Kurve die Frechheit besaß, ausgerechnet am Straßenrand zu wachsen, konnte Harald nicht schnell genug ausweichen und prallte ungehindert dagegen.

Hätte jemand neben ihm auf den Beifahrersitz gesessen, wäre dieser Jemand sicherlich gestorben. Der alte Opel hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes direkt um den Baumstamm gewickelt. Auch um Haralds Leben stand es alles andere als gut. Nur dank eines anderen Autofahrers, der kurz danach am Unfallort eintraf und sofort alle notwendigen Schritte unternahm, konnte der Achtzehnjährige gerettet werden.

Jedenfalls vorerst.

Laut Auskunft der Ärzte benötigte Harald so schnell wie möglich ein neues Herz, da sein altes durch den Unfall irreparabel beschädigt worden war. Zwar stand Harald ganz oben auf der Spenderliste, aber außer ihm gab es noch jede Menge andere Menschen, die unbedingt auf dieses lebenswichtige Organ angewiesen waren.

Lange Zeit hatten Ronald M. und seine Frau gebetet, dass ihnen das Glück diesmal zur Seite stehen würde. Doch langsam aber sicher wurde die Zeit knapp und nichts hatte sich bisher geändert. Sofern Harald nicht binnen der nächsten Stunden ein neues Herz bekam, würden ihn auch die Ärzte nicht mehr retten können.

Diese Worte hatten Ronald M. letztendlich dazu bewogen, noch einmal zum Unfallort zu fahren. Schweigend und mit Tränen in den Augen betrachtete er den zerschundenen Baumstamm. Die Spuren des Aufpralls waren deutlich sichtbar und ließen eindeutige Schlüsse zu. Obendrein befanden sich auf dem grauen Asphalt dunkelbraune Flecken, die wie getrocknetes Blut aussahen.

„Ach, Harald“, flüsterte Ronald. „Warum hast du das nur getan?“

Natürlich bekam der verzweifelte Vater keine Antwort. Dafür aber die Gewissheit, dass er etwas tun musste. Ohne die Hilfe des Vaters würde der Sohn keine Chance zum Überleben haben. Ronald wog noch ein letztes Mal alle Möglichkeiten ab. Dann stapfte er fest entschlossen zum Auto zurück.

Den Kofferraum hatte er schnell geöffnet. Sein Blick fiel auf das Stahlseil direkt vor ihm. Der bloße Anblick genügte, um dem Vater das Herz schneller schlagen zu lassen.

„Also dann“, murmelte er und hängte sich das schwere Bündel über die Schulter. „Es gibt nur diesen einen Weg“, sagte er sich auf dem Rückweg zu dem Baum, der seinem Sohn fast das Leben gekostet hatte.

Ronald M. wusste genau, dass diese Straße nicht oft befahren wurde. Dafür lag sie zu weit vor den regulären Strecken entfernt. In seinem Fall konnte dies nur von Vorteil sein. Denn so war er in der Lage, das Stahlseil ohne lästige Zeugen quer über die Straße zu spannen. Wenn dann jemand um die Kurve gefahren kam, würde es um denjenigen geschehen sein. Das Tempo genügte sicherlich, um einen schweren Unfall zu produzieren. Geschwindigkeitsbegrenzungen gab es hier keine. Auch das konnte Ronald M. nur recht sein.

Ohne große Mühe befestigte er das Seil auf Unfallbaum und überquerte dann mit dem anderen Ende die Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ebenfalls ein Baum. Diese Stelle schien für seine Zwecke wie geschaffen zu sein. Während er das Seil spannte und nach mehrmaligen Ziehen fest um den Baum legte, musste er an seinen Sohn denken. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Harald im Krankenhaus lag und nur noch von Maschinen und Schläuchen am Leben erhalten wurde. Er sah, wie Liane am Bett ihres Sohns saß und sich die Augen aus dem Kopf weinte.

„Warum nur? Warum?“, fragte sie immer wieder. Dem verzweifelten Vater gingen dieselben Worte permanent durch den Kopf. Auch ihm fiel keine Antwort darauf ein. Stattdessen stellte er fest, dass seine Augen wieder feucht wurden. Die ganze Sache nahm ihn einfach viel zu sehr mit.

Von weiten glaubte Ronald ein Auto kommen zu hören und suchte sich schnell Schutz hinter den Büschen. In Gedanken malte er sich bereits aus, wie er von seinem Handy aus anonym den Notarztwagen verständigen würde. Selbstverständlich erst, wenn er sicher war, dass der verunglückte Fahrer nicht mehr lange zu leben hatte.

Eine Minute verging. Dann noch eine. Kein Auto und kein Motorrad näherten sich seiner tödlichen Falle. Offenbar hatte er sich doch getäuscht.

Weitere zehn Minuten vergingen – mit demselben niederschmetternden Ergebnis.

„Kommt schon“, sagte er. „Tut es für Harald. Damit er weiterleben kann.“

In Ronalds Kopf tauchten Bilder aus Haralds Kindheit auf. Er sah, wie sein Sohn anderen Kindern unzählige Streiche spielte. Wie er gleichaltrigen Mädchen Frösche unter die T-Shirts steckte oder wie er kleineren Jungen beim Vorbeigehen ein Bein stellte. Ja, solche Sachen waren typisch für diesen Hitzkopf. Mit zunehmendem Alter bekam er in der Schule nicht unbedingt den Ruf eines sehr einfühlsamen Jugendlichen. Ein Mädchenschwarm war er dennoch. Dies wusste auch Harald ganz genau und nutzte dies bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit aus. Zwar hatte sich Ronald sehr oft gewünscht, Harald würde weniger egoistisch sein, doch letzten Endes zählte nur, dass er sein Sohn war.

Schon vor dem Unfall hatte Ronald gesehen, wie sein Spross mehrfach nachts sturzbetrunken vom Auto zurück ins Haus getorkelt war. Etliche Beulen an seinem alten Corsa sprachen ebenfalls eine sehr deutliche Sprache.

„Entweder du trinkst, oder du fährst. Es geht nur eines von beiden“, hatte Ronald ihm oft genug gesagt. Genützt hatte es offenbar nichts. Nun lag Harald mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus und konnte nur weiterleben, wenn er ein neues Herz bekam. Wenn quasi ein anderer für ihn starb.

Dieser Gedanke ließ Ronald nicht mehr los. War es das wirklich wert? Sollte ein anderer Mensch geopfert werden, damit Harald weiterleben durfte? Bisher war Ronald immer gegen Todesstrafe und Exekutionen gewesen, weil seiner Meinung nach jeder dasselbe Recht auf Leben besaß. Wer war er denn, dass er jetzt auf einmal über seine Grundsätze hinwegsah? Obendrein war Harald nicht unbedingt ein Musterbeispiel für einen guten Sohn. Oder Freund. Oder Liebhaber. Aber was zählten solche Dinge am Ende? Nichts. Zum Schluss blieb nur eine einzige Frage offen: waren alle Leben gleich viel wert oder konnte man unter gewissen Umständen eine Ausnahme machen?

Ronald brauchte nicht lang, um die richtige Antwort zu finden. Er war nicht Gott und wollte dies auch niemals sein. Um keinen Preis der Welt wollte er jemanden töten, nur um Haralds Fehler wieder gut zu machen. Jeder Mensch verdiente die gleiche Chance auf Leben.

Entschlossen verließ er sein Versteck. Sein Ziel war der erste der beiden Bäume mit dem Stahlseil. Von weiten hörte er bereits das Brummen eines Motors. Lange würde es nicht mehr dauern, bis jemand hier entlang kommen würde. Ronald musste sich beeilen, damit kein Unglück geschah.

Dummerweise hatte er vorhin besonders darauf geachtet, dass das Stahlseil auch wirklich hielt. Nun erwies sich das als grober Fehler und er hatte große Mühe, den schweren Knoten zu lösen.

Schrecklich lange Sekunden vergingen, dann gelang es ihm endlich. Seine Finger trugen einige blutige Kratzer davon, aber das war ihm egal. Hastig legte er sich das Seil über die Schulter und rannte auf den anderen Baum zu.

Ronald war so sehr in seine Rettungsaktion vertieft, dass er den näherkommenden Wagen weder hörte, noch sah. Auch der sich nähernde Autofahrer rechnete nicht damit, dass hinter der Kurve jemand mitten auf der Straße stehen würde. Zwar sprang sein Fuß sofort vom Gaspedal auf die Bremse, doch zu kurz war die Entfernung, um das Fahrzeug noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen.

Erst in der letzten Sekunde vor dem Aufprall sah Ronald M. was sich ihm da näherte und schrie ängstlich auf. Doch es war zu spät. Er wurde mit großer Wucht durch die Luft geschleudert. Das Stahlseil wickelte sich dabei fest um seinen Körper und riss ihn, als das Seilende erreicht war, hart auf den asphaltierten Boden zurück. Ronald M. hörte noch, wie unzählige Sachen um ihn herum zu Bruch gingen. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

Liane M. war begeistert. Wie durch ein Wunder traf gerade noch rechtzeitig ein Spenderherz für ihren Sohn Harald ein. Von einem der Sanitäter erfuhr sie, dass ein Selbstmörder mitten auf einer verlassenen Straße gestanden und sich mit einem Stahlseil an einem Baum befestigt hatte.

Sie hörte nur mit einem halben Ohr zu. Viel zu glücklich war sie darüber, dass letztendlich doch noch ein Spenderherz aufgetaucht war. Ihren Mann Ronald würde gewiss ebenso erleichtert sein. Sie freute sich schon darauf, ihm die freudige Nachricht mitzuteilen.